„Lange bevor wir herausfanden, dass er zwei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen gezeugt hatte, einer in Drimoleague und einer in Clonakilty, stand Father James Monroe vor dem Altar der Kirche Unserer Lieben Frau, Stern des Meeres, der Gemeinde Goleen in West Cork und brandmarkte meine Mutter als Hure.“ Der Beginn des Romans gibt auch direkt den Ton für die Geschichte an. Catherine Goggin ist 16 Jahre alt und unverheiratet, als sie schwanger wird – ein Skandal in der konservativen irischen Gesellschaft der 40er Jahre. Catherine wird aus dem Dorf vertrieben und schlägt sich nach Dublin durch, wo sie ihren neugeborenen Sohn zwangsweise zur Adoption gibt. Man merkt schon, Cyril Averys Leben steht seit seiner Geburt unter einem ungünstigen Stern. Adoptiert wird er von einem exzentrischen Dubliner Ehepaar, die ihm zwar einen Platz zum Leben geben, jedoch nicht das Zuhause, nachdem er sich sehnt. Immer wieder wird er als kleiner Junge daran erinnert, dass er ja schließlich kein „echter“ Avery sei. Als Jugendlicher landet er dann auf einem katholischen Jungeninternat, wo er Julian Woodbead kennenlernt. Julian ist ein Draufgänger und selbsternannter Frauenheld – und eben auch Cyrils erste Liebe. Seine Gefühle für Julian hält er geheim, aus Angst, dass dieser ihm sein Herz bricht und auch aus Angst vor einer Gesellschaft, die junge Männer wie Cyril als Kriminelle ansieht. Wir begleiten Cyril beim Erwachsen werden und sehen zu, wie er sich selbst und seine Wünsche verleugnet, um in Sicherheit leben zu können. Irgendwann schafft er es raus aus Irland, und es verschlägt ihn nach Amsterdam und New York. Doch auch dort begegnet ihm Homophobie, so zum Beispiel die Aids-Krise der 80er Jahre. Insgesamt begleiten wir Cyril 70 Jahre lang, von der Geburt 1945 bis zum Tod 2015.
John Boyne ist 1971 in Dublin geboren und lebt noch heute dort. Viele von Cyrils Erfahrungen musste der Autor am eigenen Leib erfahren, denn auch er ist als Homosexueller in dieser Gesellschaft mit nur wenig Toleranz aufgewachsen. Gerade dieses Wissen, dass es sich bei Cyrils Geschichte eben nicht nur um Fiktion handelt, hat das Buch für mich nur noch emotionaler gemacht. „Cyril Avery“ ist ein großer Roman über Liebe und Freundschaft, aber auch über Lügen, Sorgen und Trauer. Er ist tragisch, geschichtsreich, nah und realistisch und dennoch voller klugem Humor. Homosexualität, Homophobie, Emanzipation, Liebe, Freundschaft, Heimat, Familie, Aids und Tod – all diese Themen behandelt John Boyne und keins davon kommt zu kurz oder wirkt fehl am Platz. Boyne schafft es diese schwierigen Themen dem Leser auf eine nahezu leichte Art zu vermitteln. Das Tragische gleicht er mit Witz und Charme aus, alles in allem war es wohl eins der emotionalsten Bücher, die ich je gelesen habe. Ich hatte auch nach über 700 Seiten noch nicht genug und war unendlich traurig, als das Buch zu Endewar. Boynes Charakter sind mir sehr ans Herz gewachsen, ich wollte sie gar nicht mehr gehen lassen. Gerade unser Protagonist Cyril hat mich nachhaltig beeindruckt. Nach allem, was er in seinem Leben durchmachen musste, hat er doch seine witzige Art nicht verloren. Egal, wie tragisch die Ereignisse dieses Romans auch sein mögen, es gab immer wieder Stellen, an denen ich herzlich lachen musste. Cyril ist sarkastisch und klug und einfach ein „greifbarer“ Charakter.
Und auch der Aspekt der Gesellschaftskritik kommt nicht zu kurz. Die Absurditäten dieser Gesellschaft werden einem immer wieder auf komische Art vorgeführt. Doch es werden auch ernste Töne angeschlagen, gerade wenn es um Missbrauch in der katholischen Kirche, Zwangsprostitution oder eben die allgegenwärtige Homophobie handelt. Doch lassen Sie sich davon bitte nicht abschrecken! Ja, Cyril Avery passieren in diesem Buch grausame Dinge. Doch das Gesamtbild des Romans bleibt positiv. Eine gefühlvolle Geschichte, die man so schnell definitiv nicht vergisst. Dieses Buch ist nicht ohne Grund mein Lieblingsbuch des Jahres!
Gelesen von Milena Hillingmeier
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