Es gab ihn tatsächlich. Der Jurist Friedrich Alexander de l`Aigle erwarb das riesige Gelände Ende des 19. Jahrhunderts im Norden von Hamburg und gestaltete es nach allen Regeln der Zier- und Nutzgartenkunst.
Seine älteste Tochter Alma (1889 – 1959), von Beruf Reformpädagogin, war wie ihr Vater enthusiastische Gärtnerin und Naturliebhaberin (und dazu noch eine begnadete Autorin, auch wenn sie sich selbst einmal als „Schriftstellerin wider Willen“ bezeichnete). Im Jahr 1948 erschien ihr Buch „Ein Garten“ bei Classen & Goverts in Hamburg und wurde begeistert aufgenommen.
Nach dem Tod Alma de l`Aigles geriet das Buch lange in Vergessenheit.
2019 wurde es sorgfältig neu editiert und in der Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz/ Berlin herausgegeben, ergänzt durch ein sehr informatives Nachwort von Brita Reimers.
Das Buch ist gegliedert in 7 Kapitel, die im wesentlichen den Ablauf des Gartenjahres nachzeichnen, aber auch der Entwicklung des Kindes zur Erwachsenen folgen. Vorangestellt ist jedem Kapitel eine knapp, stichpunktartige Inhaltsangabe, so z.B. im 3. Kapitel: „Der Gemüsegarten – Die Wissenschaft von Spaten und Harke – Sünden um Spinat …..“
Als Grundsatz der Familie de l`Aigle galt: möglichst alles sollte aus dem eigenen Garten bezogen werden, angefangen von Obst über Blumen , Gemüse und Honig bis hin zum Brennholz. Darüber hinaus wurde zur Sicherung des Lebensunterhaltes Obst- und Gemüse an Hamburger Händler verkauft.
Pflanzen, Blüten, Gemüse und Obst werden oft auf eine verblüffende Weise und in poetischer Sprache charakterisiert und häufig mit menschlichen Wesensarten in Verbindung gebracht. So z.B. die Birne „Gute Luise“: „Sie ist wie eine Landedelfrau, die Wärme und Festigkeit, Hoheit und Milde vereint, die ein großes, warmes Herz, eine farbenreiche Seele in einer biederen, widerstandsfähigen und manchmal rauhen Schale trägt“.
Die Autorin ist eine ausgeprochene Birnenliebhaberin und beschreibt viele Sorten, die sämtlich in ihrem Garten wuchsen, hinsichtlich Aussehen, Konsistenz und Aroma derart plastisch, daß der Leser gerne direkt eine Kostprobe davon hätte. Die einen sind „Trinkbirnen“ aufgrund der großen Saftfülle, die anderen sind „dickschalig, manchmal körnig, aber mit köstlichem Weinaroma“, so z.B. die derbe Birne Jules de Liron d`Ayrolle. Beim Lesen des Buches kam ich auf sage und schreibe 15 Birnensorten, die kultiviert wurden.
Die gleiche Begeisterung wie für Eßbares aus dem Garten hatte Alma de l`Aigle auch für alles Blühende. Rosen gehören zu ihren allerfrühesten Kindheitserinnerungen, mit denen sie die „schwebende Seeligkeit“ ihrer ersten 3 Kindheitsjahre verband. Etliche, heute weitgehend vergessene Rosen, wie „Fisher and Holmes“ oder „ Allen Richardson“ wurden gepflegt, aber auch die bekannte Noisetterose Maréchal-Niel. In den letzten Lebensjahren hat Alma de l`Aigle ihren Rosen mit dem Buch „Begegnungen mit Rosen“ noch ein literarisches Denkmal gesetzt.
Das Buch endet im Rückblick auf den Zerstörungswahnsinn des 2. Weltkrieges: „Menschenwerk ist vernichtet, der Bau der Welt scheint aus den Fugen zu sein. Die Gesetze des Himmels und der Erde scheinen zerrüttet. Aber unablässig Jahr für Jahr treibt der alte Garten wieder seine Blüten und bringt seine Früchte, den ewigen Ordnungen eingefügt“.
Alma de l`Aigles „Ein Garten“ ist ein wiederzuentdeckendes literarisches Schatzkästchen für Gartenfreunde und Naturliebhaber – nicht nur an trüben Novembertagen.
Gelesen von Helmut Kopp
Kommentare